Paradoxerweise wird der soziale, nationale und kulturelle Kontext, in dem die eigenen Eltern aufgewachsen sind, nach den gängigen Herkunftsdefinitionen immer noch als mindestens ebenso prägend angesehen wie der selbst gelebte. Auch wenn beide zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt liegen und man die Lebenszusammenhänge, in denen die Eltern aufgewachsen sind, nur aus Erzählungen kennt, wird ihre Geschichte als konstitutiv für die eigene Identität betrachtet. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sich eine Identifikation mit einem Ort formiert durch dort gelebte Erfahrung, die Spuren hinterlässt und so eine emotionale Verbundenheit erzeugt.
Talisa Lallai kennt die Orte, an denen ihre Eltern aufgewachsen sind, Kalabrien und Sardinien, nur durch mit ihr geteilte Erinnerung sowie zahlreiche Besuche der Verwandtschaft, die immer auch Reisen in die Vergangenheit der Eltern darstellen. In den Jahren 2019 und 2022 machte sie sich auf den Weg, um ihre eigene gelebte Erinnerung an Kalabrien respektive Sardinien zu schaffen. Ohne die Stationen ihrer Reisen im Voraus festzulegen, ließ sie sich intuitiv über Landstraßen und Feldwege treiben, die die raue Landschaft durchziehen und die Küsten säumen. Sie machte sich so die Orte zu ihrer Geschichte und ließ mit einer Analogkamera die natürliche wie architektonische Landschaft, Kulisse ihrer eigenen Erfahrungen, auf Film und in ihrer Erinnerung Spuren hinterlassen. Die Motive, alle von der Zeit gezeichnet, wie die jahrhundertealte Korkeiche und der Wasserfall, weisen eine gewisse Unspezifität auf. Sie scheinen aus der Zeit gefallen und aus ihrem zeit-räumlichen Zusammenhang herausgelöst. Sie sind so nicht nur Vehikel für Lallais gelebte Erfahrung, sondern auch potenzielle Projektionsflächen, die es dem:r Betrachter:in ermöglichen, sich ihre Geschichten und das, was hier geschehen sein könnte, vorzustellen.
– Anna Goetz
Fotos: Cedric Mussano