Literaturliste

Gender in Ostasien: Momentaufnahmen zu Gesellschaft, Performance und Ontologie
Literaturliste von Mi You (Dozentin an der Kunsthochschule für Medien Köln und der Aalto Universität, Helsinki)

Freitag, 8. Mai 2020

Ausgehend der Arbeiten und Interessensfelder von siren eun young jung, deren erste große Einzelausstellung Deferral Theatre aktuell im Kunstverein zu sehen ist, hat Mi You (Dozentin der Kunsthochschule für Medien Köln und der Aalto Universität, Helsinki) eine Auswahl an Texten entlang von Fragen zu Gender und Performativität in Ostasien zusammengestellt. Bei Interesse schicken wir Ihnen die in der Literaturliste vorgeschlagenen Texte gern zu. Bitte senden Sie dafür eine kurze Nachricht an: mail@kunstverein-duesseldorf.de.

Gender in Ostasien: Momentaufnahmen zu Gesellschaft, Performance und Ontologie
von Mi You (Dozentin an der Kunsthochschule für Medien Köln und der Aalto Universität, Helsinki)
Die vorliegende Literaturliste versammelt Positionen aus dem zeitgenössischen Ostasien und darüber hinaus, die sich mit Genderfragen beschäftigen. Die zwei Texte von Soo Ryon Yoon und mir selbst, die im Katalog zur Ausstellung im koreanischen Pavillon History Has Failed Us, but No Matter erschienen sind, beleuchten siren eun young jungs Arbeiten und erörtern ihre Präsentation vor einem allgemeineren gesellschaftlichen Hintergrund sowie im Kontext der historischen Entwicklung, oder vielmehr dem fehlenden Kontinuum, der Performancekultur Koreas. Um das thematische Feld zu ergänzen und sich weitergehend mit der zeitgenössischen ostasiatischen Gesellschaft zu beschäftigen, sind zwei Texte nennenswert, die Einblicke in die feministischen Bewegungen Koreas und Chinas bieten: Jinsook Kims Artikel #iamafeminist as the ‘mother tag’: feminist identification and activism against misogyny on Twitter in South Korea und Yige Dongs Beitrag Does China Have a Feminist Movement from the Left? In beiden Texten wird deutlich, dass die Spannungen, die zwischen ‚westlich‘ und ‚östlich‘ geprägtem Feminismus bestehen, keineswegs mit intellektuellem Stillstand gleichzusetzen sind, sondern vielmehr an beiden der Schauplätze situationsspezifische Studien begünstigen können. Dabei sind die Berührungspunkte zwischen feministischer Bewegung und Klassenkampf ein besonders aufschlussreiches Gebiet. Im Bereich Popkultur wäre ein Kommentar von Jamie J. Zhao hervorzuheben. Der Autor erforscht das Phänomen Acrush, eine unlängst in China populär gewordene vermeintliche ‚Boyband‘, deren Mitglieder tatsächlich aber Cross-Dresser sind, die die vorherrschenden Genderdarstellungen zwar vordergründig infrage stellen, zugleich jedoch aus ihrer Ästhetisierung Kapital schlagen. Jasbir K. Puars Artikel Queer Times, Queer Assemblages, der eine Inspirationsquelle für sirens Denken darstellt, führt uns über den geographischen Raum Ostasiens hinaus und in das aufgewühlte Territorium terroristischer Körper. Der/die Terrorist*in wird hier als queer assemblage präsentiert: als queeres Gefüge, das sich nicht auf das Queersein als sexuelle Identität reduzieren lässt, als Körper, der mit Konzepten wie Linearität, Kohärenz, Permanenz unvereinbar ist – ein Körper, der sich jeder eindeutigen Festschreibung in Bezug auf ethnische Abstammung, Klassenzugehörigkeit, Gender, Sexualität, Staatsangehörigkeit, Alter und Religion widersetzt. Auf ungewöhnliche Art zeigt uns der geschärfte Sinn für Nekropolitik Wege auf, die aktuelle Situation zu betrachten, und erhebt die Frage, welche Entwicklung die Gesellschaft nach dem Coronavirus zukünftig nehmen wird – in Anbetracht der nationalistisch geprägten, uniformierenden Diskurse und Praktiken, die in diesen ‚Kriegs‘-Zeiten vermehrt in Erscheinung treten. Zairong Xiangs Artikel Transdualism: Toward a Materio-Discursive Embodiment eröffnet eine spannende Perspektive auf das Thema Gender, indem er nicht nur die philosophischen Wurzeln Ostasiens ergründet, sondern auch bis ins Innere des menschlichen Körpers vordringt. Für ihn ist Gender etwas, das unter dem vermeintlich natürlichen Prinzip der Polarität der Geschlechter angesiedelt ist. Unter Berufung auf das I Ging, das ‚Buch der Wandlungen‘, in Verbindung mit den Klassikern der traditionellen chinesischen Medizin, erkennt der Autor im männlichen Prinzip “yang” die Tendenz, sich in das weibliche “yin” zu verwandeln, und postuliert, dass uns der natürliche Fluss der Energie, die nicht nur die Welt insgesamt, sondern auch jeden einzelnen menschlichen Körper durchströmt, eine Richtung aufzeigt, um uns Formen queerer, nicht-heteronormativer Reproduktivität vorstellen können. Diese Auflistung von Artikeln, die keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, gibt uns nicht nur eine Einführung in die sozialökonomische Konditionierung der Gender-Diskurse und feministischen Bewegungen im heutigen Ostasien, sondern führt auch in das spekulative Terrain einer grundlegenden Neukonfiguration von Körper und Gender, wobei das Zusammenwirken von gesellschaftlichen, materialistischen, diskursiven und philosophisch-ontologischen Kräften ein unabdingbarer Faktor ist. (Mi You)

Yige Dong (2019) “Does China Have a Feminist Movement from the Left?”, Made in China, Vol. 4, Nr. 1, https://madeinchinajournal.com/2019/04/18/does-china-have-a-feminist-movement-from-the-left%EF%BB%BF%EF%BB%BF/

Jinsook Kim (2017) “#iamafeminist as the ‘mother tag’: feminist identification and activism against misogyny on Twitter in South Korea”, Feminist Media Studies, Vol. 17, Nr. 5.

Jasbir K. Puar (2005) “Queer Times, Queer Assemblage”, Social Text 84–85, Vol. 23, Nrn. 3–4.

Zairong Xiang (2018) “Transdualism: Toward a Materio-Discursive Embodiment”, TSQ: Transgender Studies Quarterly, Vol. 5, Nr. 3.

Soo Ryon Yoon (2020) “Refusing Obliquely in siren eun young jung’s Yeoseong Gukgeuk Project”, History Has Failed Us, but No Matter edited by Hyunjin Kim, Seoul: TURTLEBOOKS, S. 102-120.

Mi You (2020) “Feminist and Queer Desire and Care: On siren eun young jung’s Works”, History Has Failed Us, but No Matter edited by Hyunjin Kim, Seoul: TURTLEBOOKS, S. 89-100.

Jamie J. Zhao (2017) “Acrush: A Case Study in Chinese Gender-Neutrality”, The Asia Dialogue. https://theasiadialogue.com/2017/06/28/acrush-a-case-study-in-chinese-gender-neutrality/

Mi You ist Dozentin an der Kunsthochschule für Medien Köln und der Aalto Universität, Helsinki. Ihre langfristigen Forschungs- und Kuratorinnenprojekte bewegen sich zwischen den beiden Extremen des Alten und des Futuristischen. Dabei untersucht sie die Seidenstraße als eine Figuration für nomadische Subjektivitäten sowie für alte und neue Netzwerke/ Technologien. Sie kuratierte Projekte am Asian Culture Center in Gwangju, Südkorea, und am Ulaanbaatar International Media Art Festival, Mongolei (2016), und leitet zusammen mit Binna Choi das Forschungs-/ Kurator*innenprojekt Unmapping Eurasia. Gleichzeitig führte ihr Interesse an Politik in Zusammenhang mit Technologie und Zukunftsforschung zu einer Arbeit über “handlungsfähige Spekulationen“ und zu der Ausstellung, den Workshops und dem „sci-fi-a-thon”, Sci-(no)-fiction, an der Akademie der Künste der Welt, Köln (2019). Mi You ist Vorsitzende des Komitees für Medienkunst und -technologie für das transnationale NGO Common Action Forum.